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Liebenswert bizarr – Poor Things

© Bild: 2023 Searchlight Pictures All Rights Reserved.

 

Nachdem ich unzählige euphorische Rezensionen gelesen hatte, wollte ich den bereits mehrfach preisgekrönten und oscarverdächtigen Film „Poor Things“ natürlich unbedingt auch sehen. Allerdings ging ich mit einer falschen Erwartung hinein:

 

Emma Stone (grandios in ihrer Rolle!) spielt eine junge Frau, der das Gehirn eines Neugeborenen eingesetzt wurde. Sowohl die offizielle Beschreibung als auch sämtliche Rezensenten geben an, die Protagonistin verhalte sich aufgrund dieser Tatsache wie ein Kleinkind im Körper einer Erwachsenen. Das war es daher auch, was ich erwartet hatte, ähnlich wie im „Unglaublichen Leben des Benjamin Button“, einem Film, der mich fasziniert hat wie kaum ein anderer und der mich wahrscheinlich nie wieder loslassen wird.

 

So ist es aber nicht. Wenn ich als Mutter von vier Kindern eines weiß, dann wie sich Babys und Kleinkinder verhalten. Und Bella Baxter verhält sich NICHT wie ein Kind (es sei denn ein verhaltensgestörtes), sondern wahrscheinlich so, wie 


 sich der Regisseur das Verhalten eines Kleinkindes vorstellt. Mit dieser Diskrepanz musste ich mich erst einmal abfinden.

 

Allerdings macht es der Film seinen Zusehern leicht – man könnte auch sagen, er zwingt sie dazu - Abweichungen von der Realität hinzunehmen. Denn das gesamte Geschehen ist surreal und bizarr, gleicht eher einem verrückten Märchen oder Traum als dem, was normalerweise über unsere Leinwand flimmert. Das beginnt schon bei der Kamera, die mit verzerrten Perspektiven und zeitweise so extrem weitwinkeligen Aufnahmen überrascht, dass wir das Geschehen buchstäblich wie durch ein Schlüsselloch beobachten – ein durchaus passender Rahmen für diese ebenso intime wie gewagte Geschichte, die bewusst alle Konventionen über Bord wirft, die Grenzen von Ethik und Moral sprengt und sich schamlose Naivität leistet. Ähnlich wie bei der Kameraführung lässt der Regisseur auch bei den Kostümen und der Ausstattung seinem Spieltrieb freien Lauf: Er taucht sein Geschehen in ein buntes Potpourri aus altertümlichen und futuristischen Details (Pferdekutschen in London, fliegende Straßenbahnen in Lissabon), als könnte er sich nicht entscheiden, ob die Geschichte gestern, heute, morgen oder in einer anderen Welt spielen soll.

 

Zur Handlung:

 

Die schöne junge Frau Bella Baxter wurde von einem moralisch wertfreien, körperlich und seelisch gebrandmarkten Wissenschaftler (Willem Dafoe, optisch nicht wiederzuerkennen, großartig in der Performance!) aus dem Körper einer Frau und dem Gehirn ihres ungeborenen Babys geschaffen. Ihr Wesen ist durch keinerlei Eindrücke und Erfahrungen geprägt, dementsprechend begegnet sie allem und jedem völlig unvoreingenommen, frei von (Vor-)Urteilen und unbelastet von den Gesetzen der Moral oder den Regeln der Gesellschaft.

 

Der geschützte Rahmen des „väterlichen“ Heims wird ihr in ihrem Lebenshunger schnell zu eng, und so begibt sie sich an der Seite eines gewissenlosen Frauenhelden und Lebemannes auf Reisen. Erst an diesem Punkt wechselt der Film von der Schwarz-Weiß-Darstellung in Farbe – aber nicht in natürliche Farbtöne, sondern in künstlich bunt überzeichnete Kulissen, teils real, teils computergeneriert, teils gemalt, mit vielen fantastischen Elementen, die nur am Rande an die tatsächlichen Schauplätze des Geschehens (Lissabon, Paris, London) erinnern.

 

Breiten Raum nimmt Bellas sexuelle Entfaltung ein, die erfrischend unbefangen und losgelöst von emotionalen Bindungen verläuft, was allerdings den Menschen in ihrer Umgebung ein gewaltiges Maß an Toleranz abverlangt, dem nicht alle gewachsen sind. Gerade in diesen Szenen (aber nicht nur dort) fließt viel Humor in die Geschichte ein, bricht Bella mit ihrer hemmungslosen Triebhaftigkeit, ihren arglosen Fragen und unvoreingenommenen Beobachtungen doch sämtliche gesellschaftliche Tabus und entlarvt so manche Heuchelei. Herrlich komisch ist Mark Ruffalo in der Rolle des routinierten Verführers, der sich die Zähne an einer Frau ausbeißt, bei der seine Werkzeuge – von Manipulation über Schmeichelei bis zu Drohungen – versagen. Letztendlich verzweifelt er an dieser Person, die sein gesamtes Selbstbild und damit auch seinen Stolz vom Sockel reißt, ohne es zu beabsichtigen oder auch nur zu bemerken.

 

Im Verlauf der Handlung erkennt Bella, dass das Leben nicht nur aus Lust und Genuss besteht, sondern dass die Welt Leid und Ungerechtigkeit kennt. In ihr erwacht der Wunsch, aktiv zu werden und sich helfend einzubringen. Bemerkenswert ist auch ihre weibliche Emanzipation, die allerdings nicht das Ergebnis eines Reifungsprozesses ist, sondern gerade im Gegenteil in der Tatsache wurzelt, dass sie (auch aufgrund der liberalen Einstellung ihres Schöpfers) völlig frei von patriarchalen Strukturen und entsprechenden Erwartungshaltungen aufwächst und daher über ein natürliches Selbstbild als autonomer Mensch verfügt. Dennoch habe ich den Film nicht annähernd als so moralisierend empfunden, wie mich etliche (durchwegs begeisterte) Rezensionen vermuten ließen. Viel zu leicht und verspielt kommt er daher, viel zu krass überzeichnet sind die einzelnen Szenen (bestes Beispiel der herrlich lächerliche Verfall des unglücklich verliebten Casanova), als dass ein erhobener Zeigefinger darin Platz fände.

 

Fazit: „Poor Things“ merkt man die Lust an, die der Regisseur bei seiner Arbeit verspürt haben muss. Hier hat jemand seinen kreativen Geist hemmungslos ausgetobt, und diese Freude an der #llusion, am Gedankenexperiment und am Witz überträgt sich auch auf mich als Zuseherin. Auch wenn ich mir ursprünglich etwas anderes erwartet hatte, bereue ich es nicht, Bella Baxter auf ihrem Weg begleitet zu haben!

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